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geschrieben am: 01.05.2003 um 10:16 Uhr
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Es war einmal eine kleine Frau, die den staubigen Feldweg entlang kam.
Sie war wohl schon recht alt, doch ihr Gang war leicht und ihr Lächeln
hatte den frischen Glanz eines unbekümmerten Mädchens. Bei einer
zusammengekauerten Gestalt blieb sie stehen und sah hinunter. Sie konnte
nicht viel erkennen. Das Wesen, das da im Staub des Weges saß, schien
fast körperlos. Es erinnerte an eine graue Flanelldecke mit menschlichen
Konturen.Die kleine Frau bückte sich ein wenig und fragte: "Wer bist
du?" Zwei fast leblose Augen blickten müde auf. "Ich? Ich bin die
Traurigkeit", flüsterte die Stimme stockend und so leise, dass sie kaum
zu hören war. "Ach die Traurigkeit!" rief die kleine Frau erfreut, als
würde sie eine alte Bekannte begrüßen. "Du kennst mich?" fragte die
Traurigkeit misstrauisch. "Natürlich kenne ich dich! Immer wieder einmal
hast du mich ein Stück des Weges begleitet." "Ja, aber...", argwöhnte
die Traurigkeit, "warum flüchtest du dann nicht vor mir? Hast du denn
keine Angst? "Warum sollte ich vor dir davonlaufen, meine Liebe? Du
weißt doch selbst nur zu gut, dass du jeden Flüchtigen einholst.
Aber, was ich dich fragen will: Warum siehst du so mutlos aus?" "Ich...
ich bin traurig", antwortete die graue Gestalt mit brüchiger Stimme. Die
kleine, alte Frau setzte sich zu ihr. "Traurig bist du also", sagte sie
und nickte verständnisvoll mit dem Kopf. "Erzähl mir doch, was dich so
bedrückt." Die Traurigkeit seufzte tief. Sollte ihr dieses Mal wirklich
jemand zuhören wollen? Wie oft hatte sie sich das schon gewünscht. "Ach,
weißt du", begann sie zögernd und äußerst verwundert, " es ist so, dass
mich einfach niemand mag. Es ist nun mal meine Bestimmung, unter die
Menschen zu gehen und für eine gewisse Zeit bei ihnen zu verweilen. Aber
wenn ich zu ihnen komme, schrecken sie zurück. Sie fürchten mich und
meiden mich wie die Pest." Die Traurigkeit schluckte schwer. "Sie haben
Sätze erfunden, mit denen sie mich bannen wollen.
Sie sagen: Papperlapapp, das Leben ist heiter. Und ihr falsches Lachen
führt zu Magenkrämpfen und Atemnot. Sie sagen: Gelobt sei, was hart
macht. Und dann bekommen sie Herzschmerzen. Sie sagen: Man muss sich
zusammenreißen. Und sie spüren das Reißen in den Schultern und im
Rücken. Sie sagen: Nur Schwächlinge weinen. Und die aufgestauten Tränen
sprengen fast ihre Köpfe. Oder aber sie betäuben sich mit Alkohol und
Drogen, damit sie mich nicht fühlen müssen. "Oh ja", bestätigte die alte
Frau, "solche Menschen sind mir schon oft begegnet. Die Traurigkeit sank
noch ein wenig mehr in sich zusammen. "Und dabei will ich den Menschen
doch nur helfen. Wenn ich ganz nah bei ihnen bin, können sie sich selbst
begegnen. Ich helfe ihnen, ein Nest zu bauen, um ihre Wunden zu pflegen.
Wer traurig ist, hat eine besonders dünne Haut. Manches Leid bricht auf
wie eine schlecht verheilte Wunde und das tut sehr weh. Aber nur, wer
die Trauer zuläßt und all die ungeweinten Tränen weint, kann seine
Wunden wirklich heilen. Doch die Menschen wollen gar nicht, dass ich
ihnen dabei helfe. Statt dessen schminken sie sich ein grelles Lachen
über ihre Narben. Oder sie legen sich einen dicken Panzer aus Bitterkeit
zu." Die Traurigkeit schwieg. Ihr Weinen war erst schwach, dann stärker
und schließlich ganz verzweifelt. Die kleine, alte Frau nahm die
zusammengesunkene Gestalt tröstend in ihre Arme. Wie weich und sanft sie
sich anfühlt, dachte sie und streichelte zärtlich das zitternde Bündel.
"Weine nur, Traurigkeit", flüsterte sie liebevoll, "ruh dich aus, damit
du wieder Kraft sammeln kannst. Du sollst von nun an nicht mehr alleine
wandern. Ich werde dich begleiten, damit die Mutlosigkeit nicht noch
mehr an Macht gewinnt." Die Traurigkeit hörte auf zu weinen. Sie
richtete sich auf und betrachtete erstaunt ihre neue Gefährtin. "Aber...
aber wer bist du eigentlich?" "Ich?" sagte die kleine, alte Frau
schmunzelnd und dann lächelte sie wieder so unbekümmert wie ein kleines
Mädchen.
"Ich bin die Hoffnung." |
Das Sterben der Seele
beginnt nicht mit dem Verlust des
Lebens, sondern mit dem Fehlen von Liebe!
Hundert Tränen gehen den Weg der Traurigkeit bevor das Wasser der Gefühle wieder klar wird
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